Es gibt eine wahre Geschichte, die man sich von dem berühmten deutschen Gestalter Otl Aicher erzählt: Zu einer dringenden Besprechung rief er, als er einmal krank war, einen seiner Mitarbeiter zu sich ans Bett. Aichers Schlafanzug und seine Bettwäsche waren aus demselben Stoff – bedruckt mit einem schwarzweißen Schachbrettmuster. Sein Mitarbeiter bemerkte, wie Aicher während des Gesprächs der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Quadrate auf seinem Pyjama mit denen auf der Decke zur Deckung zu bringen.
Diese Anekdote amüsierte mich zuerst, und ich fühlte mich auch ein bisschen ertappt. Als ich sie weitererzählte, musste ich feststellen, dass nicht nur Aicher und ich solche Spleens haben. Offenbar handelt es sich um eine unter Grafik-Designern häufig auftretende Berufskrankheit: Graphismus. Sie ist zwar nicht mit Schmerzen verbunden, kann jedoch im fortgeschrittenen Stadium soziale Ausgrenzung nach sich ziehen. Ich war ernsthaft schockiert.
Die Symptome treten einzeln oder in Kombination auf: das zwanghafte Bedürfnis, die eigene Körperhaltung zu verändern, um Flächen oder Linien übereinander zubringen. Oder Dinge zu zentrieren, zum Beispiel Biergläser genau in der Mitte des Bierdeckels zu positionieren. Oder der unwillkürliche Griff Apfel‑Z, um Geschehenes ungeschehen zu machen, etwa eine Hochsteckfrisur, die beim fünften Mal noch schlechter gelungen ist als beim dritten Mal. Oder der Drang (gedanklich) zu retuschieren, zum Beispiel einen Fleck an der Wand (mit Stempelfunktion) zu entfernen oder unharmonische Kombinationen, wie ein trübes Blau des Meeres und ein klares Blau des Himmels, einander farblich anzugleichen. Oder der Zwang, schief hängende Bilder gerade zu rücken und so weiter.
Ursachen und Symptome des Graphismus sind zwar noch nicht vollständig erforscht, die Krankheit kann jedoch in den meisten Fällen erfolgreich mit einer Gestalttherapie behandelt werden. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!